Am Vorabend hiess es wieder einmal Abschied nehmen von San Pietro in Bevagna.
Unterlegt wurde dieser bei Freunden mit einem Primitivo di Manduria “Prima Goccia” (erste Presse). Die Süsse des Tropfens verriet, dass 2019 ein guter Sommer war, und die vollen Fässer der Weinproduzenten ihre Abnehmer finden werden. Für seinen Wein ist Manduria inzwischen weltberühmt geworden. Zu trinken gab es hier immer genug. Schon der Römer "Plinius der Ältere" beschrieb die hiesige Wasserquelle, den „Fonte pliniano“, als Segen für die damaligen Bewohner Mandurias und bezeichnete diesen Brunnen unter der Erde als eines der Weltwunder.
Manduria versprüht eine gewisse Magie, man mag rätseln, woher das kommt. Schon beim Betreten der Stadt stösst man auf messapische Mauern und davor auf leere, in Stein gehauene Gräber. Die Grabbeilagen und wenige Gebeine sind nun im Nationalmuseum in Taranto unter sicherem Dach. Wer dort nicht die letzte Ruhe fand, löste sich endgültig in der Bedeutungslosigkeit auf.
Anders auf dem “Cimitreo”, dem Friedhof Mandurias! Ich erlebte diesen als eine Stadt in der Stadt: Dort beabsichtigte ich, vor der Heimkehr Abschied von meinem langjährigen Freund Emanuel Ciccarese zu nehmen. Schliesslich war bekanntlich er es, der mir vor 30 Jahren die Tore in seine Stadt, in seine Heimat geöffnet hatte. Auf der Suche nach seinem Grab verirrte ich mich hoffnungslos im Häusermeer dieser „Stadt in der Stadt“. Keine Wegweiser wiesen den Weg und selbst der einst einflussreiche, und deshalb an bevorzugter Lage bestattete Mandurianer Carmelo Schiavoni, der es zu ansehnlichem Rum und politischen Ehren gebracht hatte, starrte schweigend mit versteinertem Blick hoch vom Sockel an mir vorbei in die Baumallee, schaute in die Hauptstrasse der Toten, wo sich Haus an Haus von Familien reihte, die längst das Ewige segneten. Immerhin fand ich am Rand der Strasse ein Haus mit einem Büro, wo noch zwei Lebende sich buchstäblich die Zeit todschlugen. Feier- oder Partystimmung herrschte dort verständlicheweise nicht, vielmehr schien mir, die Langeweile drücke auf die Gemüter, denn viel Verkehr gibt es an dieser Strasse der Trauer nicht zu beobachten. So regelmässig wie ein Wasserhahn tropft, schreitet hie und da ein Leichenzug vorbei. Viel mehr wohl nicht! Ich fragte nach Emanuele Ciccarese, dessen Grab ich suche. So erhellte sich wenigstens das dunkle Gesicht des einen Bürolisten. Man kannte also auch hier den “Wolf von San Pietro”, wie Emanuele auch genannt wurde. Während sich der Mann neben der Karteikiste nach meiner Frage mühsam erhob, musterte mich der andere mit aufgestützten Ellbogen von oben bis unten. Ich vermochte seine Gedanken zu lesen. “Wie gross ist der wohl?” Zur Frage reicht es nicht, weil ich mich schneller draussen befand, als sich seine Zunge löste. Eigentlich schade! Meine Antwort auf diese immer wieder fast unverschämt offen gestellte Frage stand wie immer bereit. Sie hätte ihm bestimmt die Friedhofstimmung aus dem Gesicht getrieben: “Zwei Meter intelligent und ein Meter und 95 Zentimeter gross! Unter der Türe wies mich der Karteichef freundlich mit den Fingern fuchtelnd des Weges. Ich verstand nicht alles, nur dort, „al fondo!“, dort müsse ich eine Mauer überqueren ...
Emanuels Grab fand ich ausserhalb der Allee, wo sich die prunkvollen Häuser der Familiengrabstätten aneinanderreihen, fand es nach einem Slalomlauf durch Marmorsakrophate, nach dem Passieren eines Feldes mit einfachen Grabsteinen und nach dem Abschreiten von engen Ruhestätten in Mauern. Endlich bei Emanuel angelangt, war mir bewusst: Nicht alle liegen gleich nach dem Tod.
Die gewöhnlich Sterbenden, wozu offenbar auch Emanuele gehört, warten unter einer Plastikhaube meistens mit einer schrecklich kitschigen Heiligenabbildung verziert auf eine mehr oder weniger prunkvolle Grabplatte.
Emanuele starb am Tag der Sonnenwende am 21. Juni 2019. Mich beeindruckte dieser Todestag irgendwie. Unweit eines Schalensteins am Schalensteinweg aufgewachsen, hörte ich halt schon als Kind von Kulthandlungen der alten Kelten bei Sonnenwenden an solchen Steinen.
Der Zufall wollte es, dass drei Stunden später bei meinem obligaten Zwischenhalt bei der grandiosen Abtei San Leonardo in Manfredonia (die Steinhauarbeiten über dem Portal gehören zu den schönsten der apulischen Romanik) ein italienischer Lehrer seiner Schülerschar in der Kathedrale eine Einfügung im Gewölbe zeigte, wo jedes Jahr am 21. Juni ein Sonnenstrahl genau bei der Sonnenwende zwischen zwei Säulen fällt.
Für mich schloss sich damit der Kreis an diesem Tag. Ich habe mir vorgenommen, mal genau zu diesem Zeitpunkt vor Ort zu sein zu sein. Das würde Emanuele bestimmt freuen, wüsste er das!