DIE APULISCHE KLINGEL VON SAN PIETRO


Hier bei dieser Klingel, unweit vom historischen Dorfkern von San Pietro in Bevagna mit seiner dominanten Turmkirche, begann 1989 mein Apulienabenteuer.

Emanuel und Frida waren die ersten Menschen, die mich in Süditalien ausgeprochen herzlich willkommen hiessen. Beides waren gute Menschen, das sei vorweggenommen. 

Hier klingelte ich also vor 30 Jahren erstmals, um meine Ankunft beim „Lupo di San Pietro“ kundzutun. Dass die Einheimischen den Weinbauernsohn, ihren Emanuel Ciccarese „Wolf“ nannten, wusste ich damals nicht, so, wie ich auch nicht wissen konnte, was künftig mich bei meinen Apulienaufenthalten noch erwarten sollte. Es sollte sich einiges anhäufen. 

Hätte ich nur der Klingel damals mehr Aufmerksamkeit geschenkt! Ich hätte so schon damals einiges ahnen müssen, hätte voraussehen sollen, dass der Strom bei Installationen dieser Art:  „Man nehme drei verschiedenfarbene Drähte unterschiedlicher Dicke und Farbe, entferne die Plastikenden und füge deren blanke Drähte  mit Zeigfinger und Daumen rollend so ineinander, damit diese einigermassen zusammenhalten!“ seine eigenen Wege nimmt. Beim Duschen liessen sich so unliebsame Erfahrung sammeln, und Schwelbrand, welcher mir im Spätherbst 1990 der unzulänglichen elektrischen Installationen wegen das Schlafzimmer mit Russ überdeckte, zwang mich die Drähte auszuwechseln. Als ich im darauffolgenden Frühling ankam, sah man nicht mehr viel vom Schaden. Emanuel fand irgendwo albanische Jungs, die für einen Pappenstiel solange  den Russ freifegten und kratzten, bis der schuldhafte Elektriker sich als Maler nützlich machen konnte. 

Bei allem: Emanuel und ich hatten das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne. Das konnte zu leichten Verstimmungen führen. Seinetwegen lernte ich die feurige süditalienische Streitkultur. Da konnte sich ein Gewitter entladen, hätte das einer auf der anderen Seite der Alpen mitbekommen, dächte er bestimmt, zwischen uns sei es für immer aus. Aber am andern Tag war die Auseinandersetzung von gestern, war beigelegt und vergessen. Man einigte sich sich bei einem Kompromiss. Stellte sich ein solcher als unmöglich heraus, war ich der Leittragende. Ich denke an den Herbst 1992. Ich erstand mir einen alten Fiat Ritmo. Das Geschäft lief selbstverständlich auch über Emanuel. Als Ausländer konnte ich diesen nicht einlösen, also anerbot sich Emanuel, das Auto über seinen Namen zu versichern. Nach einem Jahr machte mich eine Busse, ein seltsames Ereignis klug. Emanuel meinte, ich hätte wissen müssen, dass man alljährlich eigenverantwortlich sich bei der Versicherung zu melden habe, um die Targa zu erneuern. Meine war an jenem Tag abgelaufen, als ein Carabinieri mit herausgeputztem Alfa Romeo und schicker dunkelblauer Uniform sich mir nahe dem Chidro in den Weg stellte. Am Strassenrand stand ein heruntergekommener Sattelschlepper, geeignet für den Transport von mindestens sechs Fahrzeugen. „Was hat der wohl auf dem Kerbholz?“ fragte ich mich, dass er von der Polizei angealten wird. Rasch erfuhr ich den wahren Grund seines Daseins. Mir galt seine Präsenz, mir wurde die Weiterfahrt wegen der abgelaufenen Versicherungspapiere untersagt! Eine saftige Busse begleitete das Verdikt. Am Strassenrand zurückgelassen, musste ich zusehen, wie der Laster meinen Fiat Ritmo einer Sammelstelle ausgedienter Autos im Landesinnern zuführte. Erst nach Erneuerung der Versicherungskarte auf der Agentur in Manduria, dürfe ich mein Auto abholen, belehrte mich gestreng der Carabinieri. . 

Vor Ort boten sich mir anderntags zwei Möglichkeiten:

Entgegennahme des Fahrzeuges ohne Quittung: Kostenpunkt 60’000 Lire, oder jene

mit Quittung, satte 250’000 Lire abverlangte.

Die Entscheidung fiel mir leicht.  Seither zähle ich mich auch ein wenig zur mafiosen Gilde. Die Frage bleibt offen, wer dem Carabinieri punktgenau den Verfall meiner Papiere meldete. Vermutlich schlug der Staat im Staat zu.

Den Beinamen Lupo handelte sich Emanuel vorallem mit seiner allgegenwärtigen Präsenz beim Vermitteln von Häusern und Grundstücken ein. Seine Kunden waren Deutsche, Oesterreicher und Schweizer. Viele der Angekommenen wussten kaum Internes von Apulien, kannten und interessierten sich wenig für dessen Kultur und Geschichte. San Pietro war halt nie die Adresse der Reichen und der gebildeten Oberschicht, die sich bekanntlich lieber in der Toscana oder an der Ligurischen Küste um Portofino breitmacht. Hier spülte es in der ersten Zeit sogar Matrosen an Land, die zeitlebens auf den Weltmeeren herumtuckerten, einer wurde sogar weltberühmt, als ihn die Libyer kapperten. Zu den Zugezogenen gesellten sich auch solche, die zuhause einem Problem entflohen und welche, die sich (zu) früh pensionieren liessen. Bei ihnen bestand das höchste aller Gefühle in der Aussicht, ein Häuschen am Meer zu besitzen. Eine bute Gesellschaft siedelte sich in San Pietro in Bevagna an und durchmischte im Sommer die seit Generationen von einheimischen Familien gepflegte Strandordnung. Ich erinnere mich da besonders an eine Zuzügerin aus dem Appenzellerland. Dem Wunsch ihres Mannes, ein Haus am Meer eigen zu nennen, erlag auch sie. Als Trägerin eines UNESCO- Kunstpreises konnte sie es sich leisten. Mit einer ordentlichen Geldsumme wurde ihr künstlerisches Schaffen in der Gilde der naiven Malerei honoriert. Wiederum war es Emanuel, der auch ihr den Kauf eines Hauses mit kleinem Grundstück ermöglichen sollte. Sich im administrativen Gestrüb Süditaliens zurechtzufinden, erfordert intime Kenntnisse. Diese besass Emanuel. Schlange stehen, um an eine Unterschrift zu gelangen, musste man mit Emanuel an der Seite selten. Dazu fehlte ihm seines süditalienischen Temperamentes wegen die Geduld. Emanuel konnte sich, wenn nötig, mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen an allen Wartenden vorbei nach vorne drängen. Ein kurzes Klopfen an der Türe genügte, um diese gleich selber zu öffnen. Wenn auch in ein Kundengespräch verwickelt, wies ihn kaum ein „Dottore notaio“ zurück. Nach ein paar kurzen Wortwechseln durfte man damit rechnen, in einem Nebenbüro weiter bedient zu werden. 

Nach dem Kauf des Hauses liess besagte Künstlerin das Anwesen mit Hilfe Emanuels mit einigem Aufwand ausbauen. Man gönnte sich diesen und jenen Luxus. Eine Gas-Zentralheizung durfte nicht fehlen, schliesslich beabsichtigte sie, selbst im fernen Apulien während der kühleren Übergangszeit ihre Fantasien von Appenzeller Alpaufzügen auszuleben. Selbst im heissen apulischen Sommer kritzelte und malte die Künstlerin fleissig Kuh um Kuh in Reih und Glied auf die Leinwand, währenddessen sich ihr Mann im Meer ein Bad gönnte. Leider war das Glück von kurzer Dauer. Emanuel musste im ersten Winter schon dem glücklichen Pärchen die Nachricht überbringen, dass über Nacht wohl ein bestens ausgerüstetes Gauneruntermehmen das Haus in den Zustand des Rohbaus zurückgesetzt habe. Kein Türrahmen kein Fenster und keine Lampe sei mehr vorhanden, sogar die typisch schweizerischen rot-weiss karrierten Vorhänge seien weg! 

Die so romantisch begonnene Geschichte endete damit abrupt: Man sah die beiden Unglücklichen nie mehr in San Pietro. Und ihr Ferienhäuschen? Ein Fall für Emanuel!

„Si vende!“, stand auf einem Kartonschild am Gartentor in Emanels Handschrift geschrieben. 

Eine Villa im Rohbau an “bester Lage” stand zum Verkauf! Wie es weiter ging, darüber schweigen die Götter. Fest steht nur, dass Emanuel die beiden von einer schweren Hypothek befreite.

Wenn ein Einheimischer sein Haus zu jener Zeit einem Ausländer veräussern wollte, dabei handelte es sich meist um eine Zweitwohnung am Meer, wandte er sich also hilfesuchend an Emanuel. Mit seinem umfassenden Service als Übersetzer, als Türöffner bei Ämtern und Notaren, als Vermittler von Handwerkern, erarbeitete er sich im Ort San Pietro in Bevagna eine Vormachtstellung. Solches  gereichte ihm zu ansehnlichem Wohlstand. Diesen präsentierte Emanuel nie nach aussen. Nur sein stattliches Haus und seine Vorliebe zu schneidigen Autos liessen Vermutungen zu - beispielsweise war es mal ein knallgelbes Fiat Cabriolet, ein andermal ein Peugeot Cabriolet oder zuletzt ein PS- starker Alfa. Diese verrieten, dass sich Emanuel gemessen am bescheidenen Lebensstandart der hiesigen Manduriani sich durchaus etwas Exklusives leisten konnte. Dass er seinen zahlreichen Kunden jahraus jahrein die Stromrechnungen, Gebühren, Steuern und Versicherungsprämien im Vorschuss aus eigener Tasche beglich, kann als Zeichen seiner  finanziellen Unabhängigkeit gewertet werden. Bei jedem Italienaufenthalt führte der erste Gang zu Emanuel, um die Schulden zu tilgen. Dabei schaute für ihn jeweils ein ordentliches Trinkgeld heraus. Klar, dass man sich bei dieser umwerfenden Grosszügigkeit nicht lumpen liess! Beim Wechseln und Herausgeben grösserer Geldsummen als 100€ verschwand Emanuel im Keller, der ihm als Garage, Olivenholzlager und Privatbank diente. Dort holte er dann das Herausgeld, um sauberen Tisch zu machen. 

An Emanuel kam lange Zeit keiner vorbei, der in San Pietro in Bevagna Land und Gut erstehen wollte, und es waren in den guten neunziger Jahren und nach dem Millenium nicht wenige!

Die Klingel klebt noch in genau gleich heruntergekommenen Zustand wie damals an der Wand, nur im Laufe der Zeit verblasste Schriftzug „Frida“ liess sich mal besser entziffern.

Frida lebt seit Jahren nicht mehr, trotzdem liess Emanuel nach deren Tod ihren Namen auf der Klingel stehen. Ob es der Ehre ihretwegen so geschah, oder ob er es aus Gleichgültigkeit so stehen liess, wusste nur Emanuel. Seine Liason zwischen der blonden Hamburgerin und ihm, den Weinbauernsohn aus Manduria, sei mal das Gerede von Manduria gewesen, erzählte mir Emanuel. Er hätte auf Grossbaustellen vorallem in Deutschland als Schweisser gearbeitet. Da sei ihm die blonde Frida aufgefallen. Jedesmal, wenn er in den sechziger Jahren zur Ferienzeit mit seinem Cabriolet von Deutschland kommend, röhrend durch die Gassen Mandurias fuhr, seien die einheimischen Weiber neugierig auf die Strasse gerannt. „Emanuel torna a casa con la sua bionda!“

Irgendeinmal in den siebzigerjahren brach Emanuel seine Zelte in Deutschland ab. Die Sehnsucht zog ihn wie so manche in die Heimat, ans Meer, in die sonnendurchtränkten Ebenen des Salento. Emanuel hat die Heimkehr nie  bedauert. Er konnte sich halt eine sichere Existenz aufbauen. Vielen anderen gelang das nicht, und die Arbeitslosigkeit drückt im Sinne: „Wär’ ich doch nur in Düsseldorf geblieben!“ auf das Gemüt.                                                                                                                       In den letzten Lebensjahren Fridas erschwerte ihre böse Krankheit das Zusammenleben. Emanuel war oft überfordert. Es brauchte viel Zureden, bis er mit Anna eine Putzfrau anstellte, die ihm seine zahlreichen Mietwohnungen für Feriengäste in den Obergeschossen seines Hauses am Meer reinigte und bereitstellte.

Trotz Krankheit blieb Frida eine liebenswerte Frau. Ich selber wünschte mir zu dieser Zeit, ihre grosse Zuneigung hätte allein ihren unzähligen Katzen und nicht auch mir gegolten. Diese waren so zahlreich im Haus zugegen, dass sie sich auch mal die Kochtöpfe, welche sich im Garten vor der Küche aufreihten, als Schlafplatz aussuchten. Das Kochen und Zubereiten von apulischen Gerichten verstand Frida meisterhaft. Ich konnte mich der Einladungen kaum erwehren, nachdem ich mal ihre Kochkünste gerühmt hatte. Nicht, dass ich fürchtete, mal einen Katzenragu vorgesetzt zu bekommen, aber die Vorstellung schlafender Katzen in den Pfannen verdarb mir halt den Appetit. Auch ihre Aufforderung, sie stets mit „Schätzchen Frida“ anzusprechen, entsprach weder unserem Beziehungsstand noch meinen Gefühlen. Sie meinte es ja nicht so... 

Während Frida ihre Katzen liebevoll umsorgte und die restliche Kraft dafür verwendete, die Wohnung zu besorgen, ging Emanuel seinen besagten Geschäften nach. Hemdsärmlig und bauchfrei betreute er in der apulischen Sommerhitze seine Kundschaft. Allen Ausländern, denen er bei einem Hauskauf beigestanden hatte, galt seine mit Geschäftstüchtigkeit und mit Herzlichkeit gepaarte Aufmerksamkeit. Emanuel sprach perfekt deutsch und Emanuel hatte enormen Charme. Dank seiner Offenheit und seiner Neugierde verschaffte er sich eine bemerkenswerte Allgemeinbildung. Man konnte mit ihm über alles, über Gott und die Welt diskutieren.

Diesen Frühsommer 2019 verstarb mein langjähriger Freund und Apulienbegleiter. Seine grösste Liebe galt dem Ionische Meer. Nie mehr wird er dort hinausblicken können. Das ist Fakt. 

Bei mir hinterlässt er eine grosse emotionale Lücke. Ohne ihn wäre ich jetzt bestimmt nicht mehr in Apulien. Nicht, dass er mir alles Unliebsame aus dem Weg zu räumen vermochte, nicht, dass er mir selber auch Stolpersteine setzte, aber seine mir gegenüber gezeigte und gelebte Grossherzigkeit überdeckt alle unliebsamen Apulienerfahrungen, die letztlich in einem “Quanto sei bella, Italia!” münden.