„KUNO, MAX IST TOT! KÖNNEN WIR IHN DIR INS HAUS LEGEN?“


„Selbstverständlich könnt ihr das!“ meine Antwort. Das sei vorweg mal gesagt, um alle Zweifel an an meiner Gutmütigkeit zu zerstreuen.  
Dieser Telefonanruf von Emanuel aus Süditalien erreichte mich an einem Samstag, weit vor Corona- Zeiten. Er überraschte und lähmte mich so, dass meine Antwort nicht hätte anders ausfallen können. „Wieder einer deiner Schnellschüsse!“, würde mein Bruder mir unterstellen, hätte er das damals mitbekommen. Er, der vor allen seinen Entscheidungen sich zuerst das schlimmste mögliche Szenario vorstellt und danach abwägt, hätte anders entschieden: Mit einem „Nein“ nämlich! Vermutlich wäre ihm das Risiko, dass der Teufel mit dem Toten im Haus mit Einzug hält, zu gross gewesen. Dieses Mal hätte er recht behalten, muss ich im Nachhinein gestehen. 
Wer war Max Egger?
Max war einst ein ungelernter St. Galler Junge, der sich anheuern liess, sein Berufsleben als Matrose auf Weltmeeren zu verbringen, dort Schiffsböden zu schrubben, schwere Kisten herumzufugen oder Container an Kräne zu hängen. Max kannte zum Beispiel das Horn Afrikas so gut wie den Panamakanal, nämlich  vom Vorbeituckern auf Kähnen, sah viele grosse Hafenstädte der Welt. Wenn man seinen Erzählungen glaubt, habe er jeweils „die Sau rausgelassen“, wenn er für kurze Zeit wieder festen Boden unter den Füssen spürte. In Hamburg lernte er seine Frau Helga kennen, eine deutsche Jüdin, eine Jammertante ohnegleichen, die es fertig brachte, ihn an Land zu ziehen. Bei der ersten Begegnung mit Max bekam ich den Eindruck, einer Flaschenpost gegenüberzustehen, die zufällig an den Strand von San Pietro in Bevagna gespült wurde. Wie wenig er eigentlich dorthin passte, verriet mir eine Begebenheit, die Helga schilderte. Sein erster Sonntagsspaziergang ins Dorf habe mit einem Fiasko geendet. Um an der Theke des „Refugio“ bei Jacky ein Bier zu trinken, hätte er sich voller Erwartungen in seine schwarze Sonntagstracht gestürzt. Von dort sei er fluchend und frustriert mit verstaubten Hosenbeinen und schmutzigen Lackschuhen heimgekehrt. San Pietro hat halt nichts mit einer Hafenstadt gemein! Der dortige Ferienhaus- Bauboom der 70iger Jahre verwischt dem Einäugigen, dass hier seit 2000 Jahren Bauern mit Olivenbäumen ihr Dasein fristen und diese eigentlich keine geteerten Wege bräuchten. Das übersah der zur Landratte gewordene Matrose Max offensichtlich bei der Wahl seines neuen Wohnortes. 
Max wurde also 1989 einer meiner Nachbar in Italien. Dabei lernte ich ihn als hilfsbereiten Kumpel kennen, der zwar immer alles besser wusste, aber wenigstens nicht zwei linke Hände hatte, worüber ich auch mal froh war. Wir ergänzten uns gut, was sich beispielsweise darin ausdrückte, dass ich als Lehrer mehr über den Panamakanal wusste als er, der den Vorteil hörbar genoss, diesen in Natura gesehen zu haben. Das Beziehungsnetz, das sich Max im Verlaufe der Jahre in San Pietro aufbaute, blieb mir grösstenteils verschlossen. Ich befand mich ja nur in der Ferienzeit vor Ort, so bekam ich nicht alles mit, was um ihn ablief. Jedoch kannte ich oberflächlich seinen besten Freund Ernst aus Zürich, der immer wieder mit seinem mächtigen Jeep im Quartier auftauchte. Ernst betrieb einst eine Rockkonzert- Agentur. Sein Auftreten und Gehabe verrieten mir, dass er nicht lupenrein sein konnte. Ich äusserte meine Bedenken gegenüber Max und dieser gestand mir, Ernst sei in Süditalien untergetaucht, um einer Gefängnisstrafe in der Schweiz zu entgehen. Wie es halt unter diesen Umständen kommen musste, war Ernst eines Tages nicht mehr in San Pietro anzutreffen. Man munkelte, man habe ihn abgeholt und in die Schweiz abgeschoben. Für mich sei solches eigentlich ohne Bedeutung, glaubte ich! Erst als die Karabinieri mich einlochen wollten, wurde ich eines Besseren belehrt, erfuhr, dass Spinnen bisweilen ihre Netze um alle Ecken weben und man sich ungeahnt darin verfangen kann. 
Dieses Netz riss beim Tod von Max.
Dabei hört sich sein Hinschied rührend an.
„Schatz, du hast gut gekocht!“, seien seine letzten Worte beim Mittagessen gewesen, bevor er unter dem Tisch verschwand. Herzschlag! 
Dann kam eben genannter Telefonanruf vom „Wolf von San Pietro“, von Emanuel bei mir in Oensingen an! Der Weinbauernsohn Emanuel hatte einst Max als selbsternannter Immobilienhändler das Anwesen vermittelt, nun betreute er dessen Witwe in ihren schwersten Stunden. 
Was ich nicht ahnen konnte: Auf einen „Herzschlag“ mutierte ich mit diesem traurigen Ereignis 
zum Leichenhaus- und Selbstbedienungsladenbesitzer, 
zum Hundebestatter, 
zum Schiffskapitän,
zum Grabpfleger. 
Es war so: Helga wollte ihren toten Max nicht in den eigenen vier Wänden wissen, deshalb sollte er in meinem Haus aufgebahrt werden. Nach süditalienischer Tradition nehmen Bekannte bei einem Hausbesuch Abschied vom Hingeschiedenen. Aus diesem Grund blieb die Haustüre bei brennendem Licht Tag und Nacht offen. Diesen Umstand verschwieg Emanuel mir beim Überbringen der Todesnachricht. Am fehlenden Küchengeschirr, an der fehlenden Bettwäsche und anderen abhanden gekommenen Gegenständen gemessen, wurde von der Möglichkeit, von Max Abschied zu nehmen, rege Gebrauch gemacht. Mein Haus verkam demnach so zum Selbstbedienungsladen, den ich in den Sommerferien wieder aufzufüllen hatte. 
Ihren deutschen Schäferhund wollte Helga aufgrund seiner gefährlichen Unberechenbarkeit, die er nach dem Tod von Max entwickelte, auch loswerden. Helga liess den Tierarzt kommen, der Rex vor aller Augen die Todesspritze verabreichte. Ein trauriger Anblick! Mit meinem Auto fuhren anschliessend Emanuel und ich das tote Tier in die Campagana und beerdigten dieses unter einem Steinhaufen am Rande eines Olivenhains.
Der Stolz von Max war sein Motorboot samt Anhänger. Damit konnte er seine Seemannseele zu Wasser pflegen. Das dürfte beim Zusammenleben mit Helga auch mal nötig gewesen sein. Nun wollte wollte diese das Boot loswerden. Helga jammerte mir zu Tränen gerührt ihre finanzielle Notlage so herzzerreissend vor, dass ich nicht umhin kam, ihr das Boot für  2‘000ˋ000 Lire abzunehmen. Ich gedachte, meine künftigen Feriengäste damit glücklich zu machen. Es sollte nicht sein. Als ich auf dem Polizeistation in Manduria die neuen Dokumente erstellen wollte, wurden die Karabiniere in ihren schnittigen Uniformen auf einmal verdammt unfreundlich. Mir wurde vorgehalten, der Bootsmotor sei jener, der beim Flüsschen „Chidro“ geklaut wurde. 
Mamma mia! 
Ernst verschwunden, 
Max tot, 
Helga weiss von nichts, 
ich... ab in die Kiste? 
Nach solchem sah es jedenfalls einen Tag lang aus, bis Emanuel, dessen Bruder eine hohe Stelle bei den Karabinieri inne hatte, mich aus der misslichen Lage befreite. Den Schiffsmotor musste ich allerdings abgeben. Ein Barkeeper in Torre Colimena versprach mir, vorausgesetzt, dass er das Boot auch brauchen dürfe, über den Winter seinen Motor gratis zu montieren. 
Im folgenden Frühling war der Barkeeper weg und das Schiff mit ihm. 
Dem Frieden zuliebe liess ich die Sache ruhen. Je südlicher man geht, umso mehr gilt: In fremden Landen soll man sich keine Kriege führen.
Nicht ruhen in seiner bedauernswerten Lage liessen mein Deutscher Freund Bernd und ich den ehemaligen Seemann auf dem Friedhof Manduria. Wir fanden Max unter einem Erdhügel ohne Grabschmuck und ohne Kreuz begraben. Seine jüdische Witwe brachte offenbar kein Verständnis für ein Begräbnis nach hiesigen Sitten auf. Also holten wir das nach, was in Süditalien Gang und Gäbe ist:
Aus Täferholz nagelten wir ein Kreuz zusammen und beschrifteten es: 
Riposa in pace!

„Der Teufel kam nicht nur bis Emboli“, könnte man jetzt in Anlehnung an den bekannten Roman von Carlo Levi denken, sondern er kommt zeitweise offenbar in San Pietro in Bevagna bei der 12. traversa des chidro specchiarica vorbei.